Am 15.Februar dieses Jahres berichtete Rahel Schelb in ihrem Gastblogbeitrag «Kompetenzorientiertes Lernen im Waldschulzimmer» von ihren ersten Schritten lebensnahe Herausforderungen mit ihren OberstufenschülerInnen im Wald anzupacken. Was sich nach fast einem Jahr entwickelt hat, darüber berichtet Rahel in diesem Beitrag.
Heute waren wir im Wald und haben eine Tanne gefällt. Also eigentlich war es der Grossvater von zwei Jungs aus meiner Klasse, er hat sie gefällt. Aber das ist nicht der Anfang der Geschichte.
Dies ist eines unserer Projekte in der Waldschule. Mein Ziel dabei ist ein Unterricht, in dem meine Jugendlichen auf vielseitige und vielschichtige Art lernen können.
Erst war da die Idee, Sitzbänke für unser #Waldschulzimmer zu bauen. Also haben wir uns überlegt, was es dafür braucht. Geld hatten wir nämlich keines dafür. Wie also vorgehen? Vielleicht wäre ja ein Landbesitzer bereit, uns einen Baum aus seinem Waldgrundstück günstig zu überlassen? Wir könnten ihm ja einen grossen Kuchen backen dafür. Oder seinen Rasen mähen? Meine Jugendlichen hatten so einige unkonventionelle Ideen für eine Gegenleistung.
Im Klassenzimmer haben wir uns mit einem Klappmeter überlegt, welches die optimale Breite für eine Sitzbank ist und wie wir sie bauen wollen. Daraus berechneten wir, wie viel Holz wir brauchen: Wie lang muss der Baumstamm sein, damit wir daraus acht Sitzbänke bauen können?
Der Vater einer Schülerin, ein Zimmermann, gab uns den Tipp, dass sich eine Tanne am besten eignet für die Sitzbänke. Tanne ist langlebiger als Buchenholz. Nun ist unser Zielobjekt also schon ziemlich klar: Wir brauchen eine Tanne, die über mindestens neun Meter einen genügenden Stammdurchmesser bietet.
Ein paar meiner Jungs beschlossen, sich mal auf die Suche zu machen, wo denn eine Tanne zu finden ist, die nahe am Wegrand steht. Mit dem Moped erkundeten sie den Waldrand von unserem Dorf und erstatteten uns anschliessend Bericht.
Als nächstes galt es herauszufinden, wem das Land wohl gehört, auf dem sie eine Tanne gefunden hatten, die unsere Kriterien erfüllte. Ich schickte sie zur Gemeindeverwaltung. Da hängt ein grosser Zonenplan unseres Dorfes an der Wand. Es stellte sich heraus, dass sich die Tanne auf Gemeindeland befindet. Ob das nun gut oder schlecht für uns ist? Wir diskutierten. Die Jugendlichen waren mehrheitlich der Meinung, dass dies positiv sei, der Gemeinde käme es vielleicht nicht so sehr auf einen Baum mehr oder weniger an.
Bald wussten wir: Der Förster ist die Schlüsselperson. Wenn er uns die Erlaubnis gibt, dürfen wir diese Tanne fällen. Meine Klasse hat Schere Stein Papier gespielt, wer ihn anrufen muss. Ein Achtklässler nahm schliesslich das Telefon in die Hand und erklärte dem Förster unser Anliegen. Dieser sagte ihm zu, dass wir im Herbst eine der Tanne fällen dürfen, die da oben auf dem Gemeindeland steht. Kostenlos. Wir sollten einfach zusehen, dass alles weggeräumt sei, damit der Borkenkäfer nicht komme. Wir waren unserem Ziel also einen grossen Schritt näher. Und wir lernten etwas ganz Wichtiges: Probieren geht über Studieren. Mit etwas Mut zum Fragen sind wir kostenlos zu einer Tanne gekommen.
Glücklicherweise kennt sich der Grossvater von zwei Schülern ganz gut aus mit dem Fällen von Bäume. Und er erklärte sich bereit, die Tanne für uns zu fällen und mit der Motorsäge zu bearbeiten.
Heute war es soweit. Und als die Tanne fiel, waren wir alle ziemlich beeindruckt: 22 Meter hoch und 65 Jahre alt. Und nun sollen aus der Tanne Sitzbänke werden. Wir sind stolz. Dem Ziel, Sitzbänke für unser Waldschulzimmer zu bauen, sind wir nun einen grossen Schritt weiter.
In einem solchen Projekt stecken ganz viele Kompetenzen und Übungsfelder aus verschiedenen Fächern: Die Jugendlichen haben recherchiert, geplant, skizziert, berechnet, erkundet. Sie haben nach – manchmal auch unkonventionellen – Lösungen gesucht, Pläne gelesen, telefoniert, diskutiert, erklärt, Anliegen vorgebracht. Und vorhandenes Expertenwissen aus unserem Umfeld genutzt, etwas das ich besonders wertvoll finde. Ich bin Lehrerin. Vom Fällen von Bäumen habe ich keine Ahnung. Aber das Wissen ist da. Wir müssen es uns nur holen.
Selbstwirksamkeit
Ich glaube es ist etwas vom Wertvollsten, wenn Jugendlichen die Möglichkeit gegeben wird, etwas aktiv zu tun, etwas beizutragen, #Verantwortung zu übernehmen. Und zwar ruhig etwas Anspruchsvolles. Sie sollen erleben, dass ihre Gedanken und ihre Ideen gehört und ernst genommen werden. Dass es einen Unterschied macht, wenn sie aktiv sind.
Junge Menschen sollen mitreden, mitdenken, Einfluss nehmen können, und dann aber auch Verantwortung übernehmen dafür.
Wenn ein Jugendlicher erlebt, dass sich etwas verändert, weil er handelt, er also etwas bewirken kann, dann erlebt er #Selbstwirksamkeit. Und das wiederum stärkt sein Selbstvertrauen – das gerade in der #Pubertät manchmal so fragil und verletzlich ist.
Da ist zum Beispiel diese Schülerin, deren Mutter ich grad gestern eine Rückmeldung gegeben habe zu den Führungsqualitäten, die ihre Tochter hat. Das Mädel hat knappe Deutsch- und Mathematiknoten. Der erste Eindruck, wenn man in ihr Zeugnis schaut, ist nicht überwältigend. Aber hey: Ich würde sie so manchem Lehrbbetrieb empfehlen. Im #Waldunterricht, bei dem der Fokus ja auf kompetenzorientierten Lernen und Handeln liegt, übernimmt sie Verantwortung, sorgt dafür, dass die Sachen da sind, die wir brauchen, denkt mit, respektive oft voraus, arrangiert, kümmert sich. Sie zeigt ein logisches Denken und Führungsqualität in der Gruppe, die sie zwar bei einem Deutsch- oder Matheblatt nicht zeigen kann, hier aber deutlich ans Licht kommen. Ihre Qualitäten, die da zum Vorschein kommen, wären ziemlich gefragt auf dem Arbeitsmarkt.
Zudem erlebe ich, wie Selbstwirksamkeitserfahrung bei ihr zu einem raketenmässigen Schub in das Zutrauen in ihre Fähigkeiten führt.
Und das erlebe ich regelmässig: Dass die Verbindung von kompetenzorientiertem und Draussenunterricht noch andere Talente zutage fördert und dass dies mit den Kids und Jugendlichen etwas macht.
Ich möchte in der Schule keine «Objekte» heranzüchten, die einfach brav das erledigen, was ihnen die Lehrkraft aufträgt. Ich wünsche mir Subjekte, die mitdenken, die Verantwortung übernehmen für ihr Handeln. Denn nur so glaube ich, können sie entdecken, was alles in ihnen steckt und ihr Potential voll entfalten.
Wie ich auf die Idee kam, Schulunterricht nach draussen zu verlegen
Draussen sein tut uns allen gut. Und draussen lernen auch. Aber ich kam eigentlich von einer ganz anderen Seite, nämlich indem ich mir die Frage stellte, was ein geeignetes Gefäss wäre als Ergänzung zum herkömmlichen Schulzimmerunterricht, um zukunftsorientiert zu unterrichten. Ein Gefäss, das meine Schüler animiert, eigenständig zu denken und zu handeln, sich selbständig zu organisieren, Lösungen zu finden, quer zu denken, kreativ zu sein und aus gewohnten Denkmustern und Normen auszubrechen und auf neue Ideen zu kommen. Ich glaube, Unterricht im Freien ist eine Möglichkeit dafür. Unterricht draussen ermöglicht und ergänzt Lernprozesse, die im Schulzimmer nur eingeschränkt möglich sind.
Zur Autorin:
Rahel Schelb ist Mutter zweier Knaben, Bergsteigerin, Oberstufenlehrerin in Gsteigwiler BE und Bildungsreich-Kompetenzexpertin.
Im Frühjahr 2021 sind Weiterbildungen für kompetenzorientiertes Lernen im Waldschulzimmer geplant. Wer informiert werden möchte, wenn es soweit ist, kann sich hier melden, um erinnert zu werden.
Bildrechte: Rahel Schelb
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